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"Wir wollten dieses Kind" Die dritte Schwangerschaft von Dagmar Gräßle stand von Anfang an unter keinem guten Stern. Ihr Sohn Ellert kam als extremes Frühchen in der 25. Schwangerschaftswoche zur Welt und ist heute schwer behindert. Lesen sie hier, wie sie die Zeit nach der Geburt erlebt hat. |
Dagmar Gräßle ist 39 Jahre alt und lebt mit
ihrem Mann Martin und ihren vier Kindern, Wiebke, 15, Maike, 12, Ellert, 9 und
Neele, 5 Jahre, in Berlin. Eltern.de sprach mit ihr über ihre Erlebnisse und
Erfahrung, die sie mit ihrem Sohn Ellert gemacht hat. Ellert ist ein Frühchen.
Er wurde im April 1997 in der 24. SSW geboren und ist durch die Folgen der
Frühgeburt heute mehrfach behindert: Ellert kann nicht laufen, weil er eine
Spastik in den Beinen hat, und er kann nicht sprechen. Dazu kommt eine geistige
Behinderung mit autistischen Zügen und seit kurzem Epilepsie.
Eltern.de: Wie kam es zu der Behinderung?
Dagmar Gräßle:Die Schwangerschaft mit Ellert war von Anfang an
problematisch. Irgendwann war klar, dass er eine Frühgeburt wird. Ein Kind, das
in der 24. SSW zur Welt kommt, ist ohne medizinische Hilfe nicht lebensfähig.
Die Ärzte fragten meinen Mann und mich, ob wir eine Maximalversorgung wollen,
die Entscheidung lag in unserer Hand. Sie erklärten uns, dass die
Überlebenschancen trotz medizinischer Vollversorgung sehr gering seien und wir
damit rechnen müssten, dass Ellert behindert sein wird. Wir haben uns trotz der
Risiken für Ellert entschieden.
Wann war klar, dass Ellert behindert ist?
Im Alter von fünf Monaten wurde Ellert als "gesund" aus dem Krankenhaus
entlassen. Als er neun Monate alt war, fiel uns auf, dass er keinen Blickkontakt
zu mir aufnahm, wenn er mich anschaute. Das machen Kinder in dem Alter
normalerweise. Für uns war das das erste sicher Zeichen, dass was mit unserem
Kind etwas nicht in Ordnung ist. Die offizielle Diagnose wurde erst sehr viel
später gestellt.
Wann war das?
Die Ärzte haben uns zwei Jahre lang eingeredet unser Kind sei normal: Er wäre
nur entwicklungsverzögert und wir Eltern ein bisschen hysterisch. Als Ellert
zwei Jahren alt war wurde eine Computertomografie (Magnet-Resonanz-Tomografie)von
seinem Kopf gemacht und danach war sofort klar, was los ist.
Wie haben Sie reagiert?
Das Ergebnis der Untersuchung hat uns ja nur bestätigt, was wir schon geahnt
hatten. Deshalb waren wir nicht so schockiert wie das andere Eltern in der
Situation vielleicht sind. Wir hätten uns natürlich gefreut, wenn alles in
Ordnung gewesen wäre, aber Ellert ist und war wie er halt so ist.
Hatten Sie Angst?
Nein, eigentlich nicht. Wenn man ein sein Kind zwei Jahre lang aufwachsen und
sich entwickeln sieht, hat man keine Angst mehr vor der Zukunft. Man glaubt an
sein Kind. Ellert war von Anfang an ein zufriedenes und glückliches Kind, das
fängt viel auf. Schwieriger wäre es für uns gewesen, wenn wir wegen seiner
Behinderung Zweifel an der Richtigkeit unserer Entscheidung bekommen hätten,
dieses Kind mit aller Macht durch zu bringen. Weil Ellert aber so ist wie er
ist, hat sich diese Frage nie gestellt.
Wie sieht ihr Alltag aus?
Uns ist ganz wichtig, Ellert im alltäglichen Leben nicht auszugrenzen. Da wir
vier Kinder haben, nimmt Ellert keine große Sonderrolle in unserer Familie ein.
Alles was wir mit den anderen Kindern machen, machen wir mit ihm auch.
Mittlerweile geht Ellert in eine Körperbehinderten-Schule. Wir haben die Schule
sehr sorgfältig ausgesucht, was wir aber bei jedem nicht behinderten Kind
genauso gemacht haben. Ellerts Förderung nimmt viel Zeit in Anspruch, sie liegt
mir auch sehr am Herzen. Wir machen viele Therapien: Einerseits ganz normale
Sachen wie Krankengymnastik und Ergotherapie. Andererseits haben wir auch schon
ausgefallenere Sache versucht: Wir waren mit ihm bei der Delfin-Therapie in
Curacao. Man hört nie auf nach Dingen zu suchen, die Ellert vielleicht noch
weiter bringen könnten.
Wie ist das mit Ellert und seinen Geschwistern?
Nach Ellert haben wir ein weiteres Kind bekommen, das nicht behindert ist.
Ellert ist jetzt nicht mehr das Nesthäkchen und das ist gut so. Normalerweise
konzentriert man sich auf das jüngste Kind mehr als auf die anderen. Und wenn
das jüngste auch noch ein besonderes Kind ist, neigt man noch viel eher dazu,
dieses Kind in Watte zu packen und zu betütteln. Für Ellert ist seine jüngere
Schwester ein echter Gewinn: Er lernt sehr viel von ihr indem er sich einfach an
ihre Entwicklungsschritte dran hängt.
Was hat sich durch die Behinderung von Ellert für Sie verändert?
Ich habe meinen Beruf aufgegeben. Nach Ellert kam zwar noch Neele, aber
wahrscheinlich würde ich jetzt schon wieder arbeiten. Aber das funktioniert
nicht. Ellert ist oft krank. Im Frühjahr war er drei Monate lang nicht in der
Schule wegen einer Operation. Es war ein langer Krankenhausaufenthalt mit einem
anschließenden Reha-Aufenthalt.
Hat sich die Beziehung zu ihrem Mann dadurch verändert?
Ich denke nicht. Aus dem Frühchenkreis wissen wir, dass Paare durch das
gemeinsam Erlebte entweder noch mehr zusammen wachsen oder sich auseinander
leben. Mein Mann und ich kennen uns schon sehr lange, uns hat die Geschichte mit
Ellert eher noch mehr zusammen geschweißt.
Gibt es Erlebnisse an die Sie sich nicht so gerne erinnern?
Als Ellert auf die Welt kam haben wir von Anfang an viel Ablehnung von unserem
engeren Bekanntenkreis erfahren. Wir mussten unseren Freundeskreis neu
sortieren. Andererseits haben wir im Nachhinein, gerade durch die Umstände von
Ellerts Geburt, viele tolle neue Leute kennen gelernt.
Was war den ein besonders positives
Erlebnis?
Man erlebt unglaublich viel und das habe ich als Bereicherung des Alltags
empfunden. Man lernt sich zu engagieren: Ich war danach jahrelang in einem
Frühchenkreis in Heidelberg aktiv. Ein behindertes Kind ist eine große
Herausforderung. Man muss sich einfach um ganz viele Dinge selber kümmern. Es
gibt niemanden, der einem sagt wie man was machen soll. Man lernt, auf eigenen
Füßen zu stehen und für etwas zu kämpfen.
Haben Menschen Berührungsängste gegenüber behinderten Kindern?
Ja, ganz klar. Und deshalb finde ich es wichtig, dass die Kinder in integrative
Einrichtungen gehen. Dadurch kann solchen Berührungsängsten schon sehr früh
vorgebeugt werden. Ellert war in einem normalen Kindergarten, allerdings mussten
wir um diesen Einzelintegrativ-Platz lange kämpfen. Die Reaktion dort war am
Anfang auch nicht besonders schön: Sie wollten Ellert nicht in ihrem
Kindergarten haben. Hinterher, als sie Ellert kannten, fanden es alle ganz toll,
ihn da gehabt zu haben.
Woher kommen die Berührungsängtse?
Weil man Behinderte und behinderte Kinder nicht kennt. Sie kommen im Leben
normaler Menschen nicht vor. Ich bin jetzt fast 40 Jahre alt, und ich kann mich
nicht daran erinnern, dass ich in meiner Kindheit viele Behinderte gesehen
hätte. Es hat sie damals sicher auch gegeben, aber sie waren einfach nicht
präsent.
Wie sollen andere Menschen mit ihrem Kind
umgehen?
Ganz normal, wie mit jedem anderen Kind auch. Ich möchte auch nicht, dass man in
ihm nur das "arme behinderte Kind" sieht. Ich sage immer: "So besonders wie
nötig und so normal wie möglich." Und wenn jemand nicht weiß, wie er mit Ellert
umgehen soll, dann kann man fragen. Fremde Menschen werden das wahrscheinlich
nicht so machen können, aber Bekannte und Freunde können doch offen und ehrlich
zueinander sein.
Was ist für Eltern mit einem behinderten Kind anders?
"Normale" Kinder lernen irgendwann Fahrrad fahren oder solche Dinge, behinderte
Kinder werden vor andere Herausforderungen gestellt. Deshalb ist es auch für die
Eltern eine andere Herausforderung, aber nicht weniger spannend. Mit der Zeit
macht man sich Gedanken wie: "Was ist wenn mein Kind mal 30 ist? Wer versorgt
mein Kind, wenn ich mal nicht mehr kann?" Aber es geht ja immer vorwärts, ich
habe das nie anders empfunden.
Frau Gräßle, vielen Dank für das Gespräch.
Autor: Protokoll: Dunja Hoyh